Es war einmal, so fangen (auch) japanische Märchen an

Die Audiodatei zum Blogpost, inkl. Erklärungen und Aussprache der Wörter: 

Es war einmal, oder auf Japanisch: 昔々、むかしむかし (mukashi mukashi). Meist geht es dann noch weiter mit: あるところにおじいさんとおばあさんが住んでいました。 aru tokoro ni ojiisan to obaasan ga sunde imashita. An jenem Ort lebten (sunde kommt von sumu, was allgemein wohnen heißt, aber in diesem Fall besser mit „leben“ übersetzt wird) ein alter Mann und eine alte Frau.

Bekannte japanische Märchen sind z.B. Momo-Taro, ein Junge, der aus einem Pfirsich geboren wird und dann mit Hund, Fasan und Affe zur Monsterinsel aufbricht, die Monster besiegt und die gestohlenen Schätze zurückbringt. Oder Urashima-Taro, der als Dank für die Rettung einer Schildkröte zum Palast am Meeresgrund gebracht wird und mit der Prinzessin dort viele schöne Tage, Monate, Jahre, ja Jahrzehnte verbringt. Bis ihn das Heimweh packt und er zurück an die Oberfläche möchte. Als er dort ankommt, sind alle seine Freunde und die Mutter verstorben. Tieftraurig öffnet er die Kiste, die er von der Prinzessin geschenkt bekommen hat. Aus der Kiste strömt Rauch heraus, der Urashima-Taro sofort umgibt und ihn in einen alten Mann verwandelt.

Auch in der heutigen Geschichte geht es um eine Kiste (つづら, tsutsura – geflochtene Kiste), eigentlich sogar zwei. Aber eins nach dem anderen:

 

Unser alter Mann liebt es, in den Bergen mit einem Spatz 雀(すずめ suzume) zu spielen (in vielen Märchen geht der Alte zum Reisigsammeln und das alte Mütterchen zum Wäschewaschen 洗濯 せんたく sentaku an den Fluss 川 かわ, kawa). Eines Tages nimmt er den Spatz sogar mit nach Hause. Am nächsten Tag geht der Alte abermals in die Berge und lässt den Spatz zu Hause. Die zuhausegebliebene Frau hat sich aber Wäschestärke (aus Reis hergestellt) hergerichtet, um die Wäsche zu stärken. Der arme Spatz (mit dem Namen じゅんこ Junko, ein Spatz macht übrigens チュンチュン, chunchun) hat den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen und stürzt sich hungrig über die Wäschestärke 洗濯のり, sentaku nori. Erbost schneidet (切る kiru) ihm die Alte als Strafe mit der Schere (はさみ hasami) die Zunge (舌, shita) heraus. Junko fliegt weinend davon. Am Abend kommt das Großväterchen zurück und ist ganz entsetzt, als er feststellt, dass seine geliebte Junko nicht mehr da ist – und noch entsetzter, als er von seiner Frau erfährt, was passiert ist.

Junko mit Zunge

Sofort macht er sich auf, um den Spatz zu suchen. Verzweifelt ruft er ihren Namen, bis ihm Junko schließlich antwortet und ihn zu ihrem Haus führt. Dort wohnen noch andere Spatzen, alle gekleidet in Kimono und mit der Fähigkeit zu sprechen, und bringen dem alten Mann Tee お茶 ocha und Süßigkeiten お菓子 okashi. Sie tanzen踊る, odoru und singen 歌う, utau für ihn. Als es Zeit wird, nach Hause zu gehen, bietet Junko ihrem alten Herrn zwei Kisten an, eine 大きい箱große und einen kleine小さい箱. Der Mann entscheidet sich für die kleine Kiste, da sie leichter 軽い karui ist. Zuhause mit der Kiste angekommen, öffnet 開ける akeru er sie. Die Kiste ist gefüllt mit Gold und schönen Stoffen. Als die habgierige 欲張り yokubari Alte das sieht, macht sie sich ebenfalls auf den Weg zum Haus der Spatzen. Sie wimmelt Tee und Süßigkeiten ab und will gleich zu den Kisten. Natürlich nimmt sie sich die große Kiste, kann sie aber nicht bis nach Hause tragen und öffnet sie auf halbem Weg. Heraus kommen aber nicht Gold und Reichtümer, sondern schmutzige 汚い kitanai und furchteinflößende 怖いkowai Monster お化け obake.

Und die Moral von der Geschicht?

Irgendwie erinnert mich diese Geschichte an  Frau Holle mit der Goldmarie und der Pechmarie. Natürlich haben auch japanische Geschichte einen moralischen Punkt, der angeprangert wird – oft geht es um Habsucht und Gier. In ein paar wenigen japanischen Märchen gibt es aber auch ein Happy End. Meist wird dabei jemand belohnt, weil er einer verkleideten Gottheit geholfen hat.

Wir haben dieses japanische Märchen vor kurzem im Unterricht gelesen. Eigentlich ist es ja auch dem alten Mann anzukreiden, dass er den Spatz seiner Frau vorgezogen hat. Man könnte sagen, er hat sie betrogen – stellt er doch dem Spatz nach, frisst und säuft (wer weiß, ob es nur beim grünen Tee geblieben ist!) und lässt sich noch von ihr wie von einer Geisha unterhalten (Gesang und Tanz). In unserem eigentlich jugendfreien Buch war Junko als einzige ohne Kimono. Da hat wohl das Geld gefehlt, das dann in der Kiste war…

Japanische Märchen sogar im echten Leben

Diesen Sommer habe ich sogar im Haus der Spatzen 雀のお宿 suzume no oyado, übernachtet. Hier ein paar Fotos davon:

Opa mit Spatz, im Hintergrund die böse Schere

 

die Kiste – fragt sich nur, ob das die große oder die kleine Kiste ist

Als Höhepunkt des Aufenthalts in diesem speziellen Hotel gab es dann eine Aufführung der Geschichte – inkl. Werbeeinblendungen von Souvenirs, die man im Hotel kaufen konnte. Hör dir das Video an und schreib mir als Kommentar, wie viel du verstanden hast. Die Stimme vom Spatz ist sehr gut zu hören, der Großvater nuschelt leider sehr in seinen Bart hinein. Hör besonders auf die Wörter hin, die ich dir im Text bereits hingeschrieben habe – so wirst du zumindest ein paar Brocken heraushören.